Mittwoch, 10. August 2016

Wer bin ich, warum und wenn ja, wie viele...

Der Mensch an sich ist schon eine besondere Spezies. Wir haben irgendwie nie Zeit, sind meist nicht wirklich entspannt, haben oft ganz spezielle Wünsche und Vorstellungen, sind immer wieder am mosern oder jammern, nie so richtig mit uns selbst oder anderen zufrieden... Und trotzdem machen wir häufig lange so weiter wie vorher. Manchmal überlegen wir vielleicht, wie sich dieses oder jenes ändern ließe und mitunter gibt es sogar Dinge, die wir tatsächlich anders gestalten. Doch viel lieber träumen wir von der großen Freiheit, von einem anderen Leben und davon, wie schön es doch wäre, wenn... Nur selten scheinen wir den Druck so stark zu spüren, dass wir wirklich grundlegende Änderungen angehen.

Sicher, es ist nicht gerade einfach, aus gewohnten Bahnen auszubrechen und alles umzukrempeln. Wir haben unserem Leben einen Rahmen gegeben, der uns eine gewisse Sicherheit und oft auch bestimmte Verpflichtungen vorgibt. Das können wir ja nicht mal eben so ändern. Oder doch? Schließlich sind wir es selbst, die über unser Leben bestimmen. Wir haben uns den Rahmen gesetzt, also können wir ihn auch verschieben, neu definieren oder komplett wegreißen. Aber was kommt dann? Was wird uns die Zukunft bringen? Was wird uns auf neuen Wegen begegnen? Am Ende kann und muss jeder für sich selbst entscheiden. Und so ist den meisten der sichere und gewohnte Komfort letztlich näher als eine ungewisse, vielleicht viel freiere und lebendigere Zukunft.

Doch ist es nicht gerade das Unbekannte, das uns neugierig und offen sein lässt? Ist es nicht das Spannende, das uns immer wieder neu herausfordert? Ist es nicht das Überraschende, das uns prickelnd leicht und lebendig fühlen lässt? Das Leben ist eine Reise – mal hell und sonnig, mal grau und verregnet, mal kurzweilig und angenehm, mal anstrengend und fordernd. Niemand kann ahnen, wie viele Berge wir überwinden, Täler durchschreiten oder Seen durchschwimmen müssen. Niemand kann vorhersagen, welche Abzweige, Kreuzungen oder Hindernisse wir unterwegs finden werden. Niemand kann wissen, wie viele Umleitungen, Irrwege oder Schleifen wir gehen müssen, bis wir unseren eigenen Weg und hoffentlich unser ganz persönliches Glück finden. Ich weiß nur eins, solange wir nicht wenigstens losgehen, werden wir auch nichts finden.

Wir vergleichen uns oft mit anderen, messen uns an ihren Maßstäben. Oder genauer gesagt, an dem, was uns andere vermitteln. Wer weiß denn schon, wie es tatsächlich in ihnen aussieht. Nur weil andere noch nicht oder nicht mehr suchen, bedeutet das noch lange nicht, dass sie fündig geworden sind. Die meisten sind eher zu bequem zum Suchen, ob sie es zugeben oder nicht. Sein persönliches Glück zu suchen, braucht Offenheit und Mut. Es kann ja schließlich sein, dass uns unterwegs einige Überraschungen begegnen. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede – ich bin gerade mittendrin. Und so langsam wird mir klar, was der Spruch wirklich bedeutet: "Life begins at the end of your comfort zone."

Vierzehn lange Jahre habe ich es in meinem letzten Job ausgehalten. Die Projektarbeit war genau mein Ding, es gab immer wieder Neues und es wurde wahrhaftig nie langweilig. Viele spannende Menschen, Projekte und Unternehmen habe ich dabei kennengelernt. Es hat Spaß gemacht, mit den Kollegen im Team und in wechselnden Besetzungen zusammenzuarbeiten. Auch wenn es mitunter schon an Galgenhumor grenzte, haben wir immer noch einen guten Grund zum Lachen gefunden. Den Ausgleich zu meinem anstrengenden Job habe ich mir anderswo gesucht – mit Freunden, im AbenteuerCamp, in der Musik, beim Schreiben und anderem kreativen Zeugs.

In meinem Job habe ich fachlich und menschlich unheimlich viel gelernt. Hängen geblieben sind vor allem drei Dinge. Zum Ersten: Qualifizierte und zuverlässige Arbeit spricht häufig nicht für sich selbst. Für deine Motivation und Wertschätzung bist du ganz allein zuständig, denn letztere ergibt sich allzu oft nur aus dem nicht erteilten Anschiss. Getreu dem Motto "Nicht getadelt ist genug gelobt". Zum Zweiten: Wirklich ehrliches Feedback ist meist nur dann willkommen, wenn es der Erwartung des Fragenden entspricht. Dir bleibt also die Wahl, dich entweder an die Erwartungen anzupassen oder ein unbequemer Geist zu sein. Letzteres natürlich mit den entsprechenden Konsequenzen. Zum Dritten: Umso länger du bleibst, desto schwerer wird es, dich zu lösen und etwas neues anzufangen. Dazu braucht es nicht selten einschneidende Erlebnisse, die dann umso schmerzhafter und wirkungsvoller sind.

Ich habe in all den Jahren eine ganze Menge weggesteckt, vielleicht sogar zu viel. Trotz allem bin ich mir immer treu geblieben. Für das was ich gesagt oder getan habe, kann ich mich nach wie vor im Spiegel ansehen. Ich habe mich nicht allzu sehr angepasst – dachte ich... Doch im Lauf der Zeit schien der Spiegel immer höher zu hängen. Oder lag es daran, dass ich kleiner geworden bin? Es ist mir selbst gar nicht so aufgefallen, dass ich mich wohl aus dem Blick verloren habe. Erst als mich grundlegende gesundheitliche Themen bewegt und quasi zum Anhalten und Nachdenken gezwungen haben, kam ich wirklich ins Grübeln. Und habe aus meiner Sicht das einzig richtige getan – mir selbst Zeit zu schenken und mich aus dem Alltag zu lösen. Eine folgenschwere Entscheidung...

Zeit für mich – das waren drei Monate Sabbatical, in denen ich tun und lassen konnte, was ich mochte. Das klingt hervorragend und genau das ist es auch. Eine Erfahrung, die ich nur jedem wünschen kann. Egal wie lange – nicht die Dauer, sondern die Intensität ist es, die zählt. Für mich war die Zeit mit vielen neuen Erlebnissen und Erfahrungen, vielen Begegnungen und Gesprächen verbunden. Ich mag Menschen, die auf der Suche sind. Menschen, die sich selbst und die Welt um sich herum in Frage stellen. Menschen, die unterwegs sind zu sich, zu ihren Ideen und Träumen. Solchen Menschen zu begegnen, mit ihnen zu reden, ist eine große Bereicherung. Das habe ich in den letzten Monaten öfter erfahren dürfen und daraus unheimlich viele Impulse mitgenommen.

"Du hast es so gut. Ich beneide dich total." Das habe ich in meinen letzten Arbeitstagen häufig von Kollegen zu hören bekommen. Meist habe ich dann nur gelächelt, weil ich ja selbst noch nicht fassen konnte, was da auf mich zukam. Noch wenige Monate zuvor hätte ich nicht geglaubt, irgendwann einmal meinen Job hinzuschmeißen, ohne einen neuen oder zumindest einen halbwegs sicheren Plan für die Zukunft zu haben. Doch mitunter ändern sich Dinge und Einstellungen – mal Stück für Stück, mal mit einem großen Ruck. In diesem Falle war es ein großer Schritt für mich, aber eben erst der Anfang. Mit der abgegebenen Kündigung kam die große Euphorie, mit den letzten Arbeitstagen großer Druck, weil jeder plötzlich noch etwas ganz wichtiges erledigt haben wollte, dann kam langsam Urlaubslaune auf und später, als es wirklich vorbei war, ein tiefes Loch.

Endlich frei, zu tun und zu lassen, was ich will... Eigentlich hätte es mir bestens gehen sollen, aber dem war nicht so. Mit Freiheit klarzukommen, ist gar nicht so einfach. Es ist eine Chance und große Herausforderung zugleich. Zumal für jemanden wie mich, die ich mich bisher stark über meinen Job definiert habe und eher gewohnt war, mit Zwängen umzugehen, als mit Freiheit. Als dazu die Dämonen vom letzten Jahr wieder auftauchten und erneut gravierende gesundheitliche Fragen im Raum standen, haben sich meine Ängste und Zweifel noch verstärkt. Doch so langsam wird es wieder heller, auch wenn noch lange nicht alles klar ist und ich mit vielen Themen noch lange nicht durch bin.

Bei Lichte betrachtet, finde ich es nicht ungewöhnlich und auch nicht schlimm, sich selbst in Frage zu stellen. Diese Freiheit nehmen wir uns nicht oft im Leben. So lange wir in gewohnten Bahnen laufen und nur funktionieren, bleibt dafür meist weder Zeit noch Gelegenheit. Zu sagen, was ich nicht will, fällt relativ leicht. Hingegen herauszufinden, was ich wirklich will und kann, ist eine Möglichkeit, mich noch einmal neu zu definieren und meinen eigenen Weg zu finden. "Eigene Wege sind schwer zu beschreiten, sie entstehen ja erst beim Gehen." Immer wieder schießt mir die Textzeile durch den Kopf. Die Idee ist nicht neu, aber nach wie vor aktuell. Na dann geh ich so langsam mal los – denn genau das war ja der Plan. Ich mag Menschen, die unterwegs sind und so langsam fange ich wohl an, mich auch selbst zu mögen... Ich glaube, das lässt sich lernen, wie so vieles im Leben.


© GB2016